Nahrungszusatzstoffe
Etikettenschwindel mit Zusatzstoff-Imitaten
Sage niemand, die Lebensmittelwissenschaftler würden die Sorgen und Ängste des Verbrauchers nicht ernst nehmen. Ihnen verdanken wir, dass viele der leidigen E-Nummern von den Etiketten verschwunden sind. Stattdessen ist "natur pur" drin. Symbol des Fortschritts sind die "chemiefreien" Gummibärchen ohne künstliche Farbstoffe.
"High Tech" statt E-Nummer
Was bei den Farbstoffen noch relativ einfach war, beruht bei vielen anderen Produkten auf "High Tech": Wir haben die "chemischen Zusatzstoffe" durch "funktionale Additive" ersetzt. Jedes Lebensmittel, stamme es aus dem Pflanzen- oder Tierreich, ist ein komplexes biologisches System, das neben Eiweißen, Fetten und Kohlenhydraten noch zahlreiche Begleitstoffe enthält. Zum Beispiel Lecithin. Hinter diesem unverfänglichen Begriff verbergen sich gleich mehrere Stoffklassen mit sehr heterogener Zusammensetzung und vielfältigen Eigenschaften - sowohl technologischer wie biochemischer Art. Sie werden fraktioniert und angereichert, bis sie maßgeschneidert den gewünschten Zweck erfüllen. Die biologische Wirkung muss mitnichten mit unserer Vorstellung von Lecithin übereinstimmen. Aber dies verliert sich im Nebel der "Natürlichkeit".
Zauberformel: funktionale Additive
Die zweite Erfolgsstrategie nutzt die Möglichkeiten der Modifizierung. Man nehme beispielsweise Fett- oder Eiweißfraktionen und verändere sie so lange, bis sie wie Zusatzstoffe wirken: als Emulgatoren, Antioxidantien, Verdickungsmittel, Kristallisationshilfen usw. Dafür müssen sie mit dem ganzen Instrumentarium des Chemikers auf technologischen Kurs getrimmt werden; sei es durch enzymatische, physikalische oder chemische Behandlung. Genaugenommen sind funktionale Additive Zusatzstoff-Imitate.
Zurück zu den E-Nummern
Ersetzen in einem Fertiggericht verschiedene Molkenpräparate ebensoviele E-Nummern, reicht's auf dem Etikett gerade noch zum "Milcheiweißerzeugnis". Wie sollen Arzt und Patient die spezifischen Auslöser einer Allergie ermitteln? Jedes Molkenpräparat hat ein anderes allergenes Profil.
10 Millionen Betroffene
Nun glaube keiner, diese Erwägungen seien nur für Allergiker interessant. Welche Folgen der unkritische Glaube an die "Natürlichkeit" haben kann, zeigt gerade ein Produkt, das von der Mehrzahl der Verbraucher für "gesund" gehalten wird: der Milchzucker. Immerhin vertragen hierzulande 10 Millionen Menschen keine Lactose.
In Unkenntnis dessen leiden viele von ihnen unter chronischen Verdauungsstörungen. Und ihre Zahl wird steigen: Aus technologischen Gründen wird Lactose immer mehr Lebensmitteln zugesetzt, in denen sie kaum jemand vermuten würde, z.B. Backwaren.
Merke: An einer Milch-Unverträglichkeit sind nicht immer die vielgescholtenen Eiweiße schuld.
Quelle: Eulenspiegel, wissenschaftlicher Informationsdienst des Europäischen Institutes für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften, 4/1996